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R E V I E W S
Die Langnauer Jazz Nights brachten wie je-
des Jahr prominente Namen der New Yor-
ker Szene ins Emmental, aber auch einige
Musiker, die weitab vom gängigen Main-
stream nach einer neuen Musik suchen.
Fast hätte man während der ersten Tage meinen
können, die Musiker in der Langnauer Kupfer-
schmiede trainierten allesamt auf die Olympia-
de: Immer ging’s noch virtuoser zu – noch mehr
Töne, noch rasantere Läufe, noch mehr Trom-
melkanonaden. Natürlich kann auch solch hyper-
virtuose Musik faszinierend sein – der moderne
Jazz ist seit Charlie Parker und Dizzy Gillespie,
also seit 70 Jahren, immer auch eine Bühne für
Tempobolzer und Fingerakrobaten.
Dennoch war man froh, als am vierten Abend mit
dem Quartett des Gitarristen John Abercrombie
dann doch eine Gruppe auf der Bühne stand, die
sich dem Virtuosenwettstreit verweigerte und
sich ganz aufs Miteinander, auf das feinsinnige
Dialogisieren konzentrierte. Das lag nicht nur an
Joey Baron, einem Schlagzeuger, der nicht wie
viele andere die musikalischen Räume zudröhnt,
sondern sie mit sparsamen, aber präzis gesetz-
ten Akzenten und mit geschmeidigen, ”leichten”
Rhythmen für den Solisten gleichsam öffnet.
Baron, der Bassist Drew Gress und der Pianist
Marc Copland sind aufmerksame Begleiter für
Abercrombies fein gesponnene, lyrische, zu-
weilen folkloristisch getönte Musik. Was nicht
heisst, dass sie bei Bedarf nicht auch mal richtig
zulangen können.
Begonnen hatten die Langnauer Jazz Nights mit
einem entspannten, stimmungsvollen Set des
Gitarristen Kurt Rosenwinkel und dem Trio der
74-jährigen Schlagzeugerkoryphäe Jack DeJohn-
ette. Das Trio ist gleichsam ein Familienunter-
nehmen: Der E-Bassist Matt Garrison, Sohn des
Coltrane-Bassisten Jimmy Garrison, ist das Pa-
tenkind von Jack DeJohnette und lebte als Teen-
ager mehrere Jahre in dessen Familie, Ravi Col-
trane, der Sohn des grossen Übervaters, ver-
kehrte ebenfalls seit seinen Jugendjahren regel-
mässig im Hause DeJohnette. Aber: Genie ver-
erbt sich eben nicht so leicht. Ravi Coltrane ist
ein technisch versierter, aber doch nicht sonder-
lich interessanter Saxophonist. Er hat zahlreiche
gut einstudierte Licks auf Lager, aber kaum je
gelingt es ihm, diese zu einer spannenden Erzäh-
lung – und nichts anderes ist ja ein Solo – zu-
sammenzubauen. Auch Garrison reisst kaum je-
manden vom Hocker, erst recht nicht mit seinen
hilflosen Versuchen, irgendwelchen Maschin-
chen irgendwelche elektronische Klänge zu ent-
locken. Auf der kürzlich erschienen CD ”In Move-
ment” mag diese ausfransende, zerbrechliche
Musik vielleicht einen gewissen Reiz haben; für
den Liveauftritt wählte DeJohnette denn auch zu
Recht eine kraftvollere Gangart, allerdings mit
dem auch nicht ganz überzeugenden Resultat,
dass der ganze Auftritt zu einem einstündigen
Schlagzeugsolo mutierte, in dem die beiden Mit-
musiker nur kleine Nebenrollen spielten.
Als Bandleader, behaupten böse Zungen, rächen
sich Schlagzeuger für all die vielen Hundert
Stunden, die sie sonst hinter den Solisten ra-
ckern mussten. Das galt vor allem auch für den
Auftritt des des mexikanischen, in New York le-
benden Schlagzeugers Antonio Sanchez. Wie
immer er auch zu einem Grammy für die Film-
musik von ”Birdman” gekommen ist – seine ein-
stündige ”Meridian Suite" jedenfalls ist kein
Meisterwerk geworden. Weder hat der kompo-
nierende Schlagzeuger zündende Themenmelo-
dien gefunden noch überzeugende, abwechs-
lungsreiche Abläufe und Strukturen. Wäre da
nicht der grossartige Saxophonist Seamus Bla-
ke gewesen, der den ausufernden komposito-
rischen Belanglosigkeiten immer wieder ein
Glanzlicht aufsetzte.
Powerjazz
Fast am Sessel festhalten musste man sich da-
gegen beim Auftritt der Hardcore-Fusion-Grup-
pe von Mike Stern und Bill Evans, auch wenn in
Langnau der Gitarrist Bryan Baker für den ver-
letzten Mike Stern einspringen musste. Von der
ersten Sekunde an gaben die vier Musiker Voll-
gas, wie Evans, Stern und der E-Bassist Darryl
Jones das in den 80er-Jahren bei Miles Davis
gelernt haben. Die knappen, rockjazzigen The-
men dienten dabei vor allem als Sprungbrett in
die mitreissend virtuosen Improvisationsfeuer-
werke, zu denen Jones und der Schlagzeuger
Keith Carlock den unwiderstehlichen, knallhar-
ten Groove lieferten.
Sehr viel relaxter, aber ebenso spannend der
Trio-Auftritt des weit unterschätzten Schweizer
Pianisten Malcolm Braff. Der 46-jährige Musi-
ker und erfolgreiche Erfinder von Brettspielen
spielt einen eigensinnigen Personalstil. Meist
ausgehend von repetitiven Bassfiguren, lässt er
sich scheinbar einfach treiben, dahin, dorthin,
ohne klare Richtung, ohne festes Ziel: eine intui-
tive Musik von überquellender Phantastik, für die
Jazzkritik den Begriff der motivischen Kettenas-
soziation erfunden hat; ein Motiv entwickelt sich
aus dem andern, mühelos fliessen Ideen unter-
schiedlichster Herkunft in den Improvisations-
fluss; und dennoch entstehen wie zufällig sehr
gekonnte Spannungsbögen.
Weit eindeutiger einer bestimmten Traditionsli-
nie des Jazzpianos zuordnen lässt sich der in
New York arbeitende Venezolaner Luis Perdomo.
Es ist die Bill Evans-Schule, die in Herbie Han-
cock und Chick Corea ihre vielleicht brillantes-
ten zeitgenössischen Exponenten gefunden hat.
Auch Perdomo beherrscht dieses virtuose Spiel
mit fein ziselierten, perlenden Läufen, auch seine
Musik ist von makelloser Schönheit und durch-
trainierter Eleganz. Und doch hat man immer
auch ein wenig das Gefühl, das alles bereits
schon hundertmal gehört zu haben.
Nichts von alledem gilt für Weird Beard, das
Quartett des Saxophonisten Florian Egli. Solis-
tische Virtuosität, elegante Melodiegirlanden,
mitreissende Rhythmen stehen hier nicht im
Vordergrund. Die vier jungen Zürcher spielen
vielmehr eine Art Ambient Music mit wechseln-
den Gemengelagen unterschiedlicher Stilistiken.
Es ist eine melancholische, zuweilen recht düs-
tere, in vielen differenzierten Grau- und Pastell-
tönen gehaltene Klanglandschaft, die langsam
vorbeizieht; sublime, spröde Klänge, die jäh un-
terbrochen werden durch heftige Ausbrüche, hin
und wieder spielen sich Dave Gislers irrlichtern-
de Gitarrenlinien für eine Weile in den Vorder-
grund, ballen sich Eglis sanfte Melodiefragmen-
te zu einer veritablen Solopassage zusammen.
Eine eigenartige, abstrakt anmutende Musik, die
vor allem vom raffinierten Spiel der Farben und
Klänge lebt, von feinsten Schattierungen und
harschen Kontrasten, oft zugleich sanft und hef-
tig, weich und hart, vorsichtig tastend und ag-
gressiv. Neue Töne für Langnau.
Christian Rentsch
Der Auftakt zum diesjährigen Météo Festi-
val in Mulhouse brachte ein Doppelkonzert
mit zwei grundverschiedenen Ensembles.
Den Anfang in der gut besuchten Filature mach-
te Supersonic mit Musik von Sun Ra. Ich würde
meinen, es war vor allem inspiriert von Sun Ra.
Der Sänger, Saxophonist und Leader des Sex-
tetts, Thomas de Pourquery, betonte in seiner
Ansage, dass es nicht um Nostalgie oder Retro-
Programm gehe, sondern um ”eine ewige Ge-
genwart”. Die erfrischend originellen Arrange-
ments überzeugten in ihrer bestechenden Viel-
falt. Es war richtig wohltuend, endlich mit neu-
er, anderer Musik konfrontiert zu werden. Um de
Pourquerygruppieren sich Fabrice Martinez (tp,
bugle, voc) und Daniel Zimmermann (tb), eine
Bläsersektion, die bei geschlossenen Augen nach
mehr als drei Mann tönt. Arnaud Roulin (p, keyb)
bildet die ideale Brücke zur Rhythmussection mit
Edward Perraux (dr) und dem ausdrucksstarken
E-Bassisten Frédérick Galiay. Überzeugend und
ausserhalb Frankreichs unbedingt zu entdecken!
Getragen von viel lyrischer Tiefe und Schönheit
war das Konzert mit dem Pianisten Joachim
Kühn und der Jazzlegende Archie Shepp. Der im
80. Lebensjahr stehende Saxophonist gehört
noch zu jenen raren Musikern, die mit John Col-
trane spielten. Schon 1967 spielte Shepp im
Village Vanguard erstmals mit dem gut sieben
Jahre jüngeren Pianisten aus Leipzig. 2010
spielten die beiden auf Shepps eigenem Label
das Album ”Wo!man” ein, das den Grundstock
ihres Auftritts von Mulhouse bildete, vorwiegend
Eigenkompositionen wie ”Transmitting” (Kühn)
oder ”Nina" (Shepp), aber auch ein begeistern-
des ”Lonely Woman” (Ornette Coleman) oder ein
bezauberndes ”Harlem Nocturne” (Earl Hagen &
Dick Rogers alias Lounge Lizards). Es war ein
Austausch in perfekter Harmonie und dennoch
ein herausfordernder Dialog. Shepp spielte seine
Melodien am Tenorsax ruhig, langsam, mit präg-
nanten Akzenten und wunderschönen, biswei-
len auch schnelleren Bögen, immer in fragiler
Schönheit. Kühn setzte in seinen Soli Kontra-
punkte und überzeugte mit einem üppigen Reich-
tum an Ideen, meist getrieben von den Rhyth-
men seiner starken linken Hand im Wechsel mit
den schnellen Soli der rechten. Das Publikum
war so konzentriert, dass es auf Zwischenap-
plause verzichtete (eine Seltenheit!), um am
Schluss stehende Ovationen zu spenden.
Ruedi Ankli
Langnau Jazz Nights, 26. – 30.7.2016 – Fingerfertigkeit und Eigensinn
Météo Mulhouse Music Festival 2016 – Eröffnungsabend, 23.8.2016
FOTO: DRAGAN TASIC/NGA.CH
John Abercrombie
J A Z Z ‘ N ‘ MO R E